Von der Rostlaube zur Rakete (2024)

Sie müssen entschuldigen, aber ich halte mein Schulenglisch durch US-Serien wie Dexter oder The Wire auf dem Laufenden.

Jim Kerr: Gute Wahl.

Ich glaube, ich kann ganz gut fluchen.

Kerr: Sie sprechen wahrscheinlich besser englisch als ich (lacht).

Die Simple Minds haben Anfang der 80er Jahre experimentellere Musik gemacht. Zwischen Post-Punk und Georgio Moroder. Sie haben sich stets neu erfunden. Und plötzlich Anfang der 90er sind nur noch U2 da und Ihre Band ist wie von der Bildfläche verschwunden.

Kerr: In den 80er Jahren haben wir acht Alben aufgenommen, in den 90ern zwei oder drei. Das zeigt schon, dass etwas falsch gelaufen ist. Es gab mehrere Gründe wie die Fluktuation der Bandmitglieder, ein neuer Manager und - ich will nicht pathetisch klingen - aber wir waren von uns selbst erschöpft. Zudem bleiben die meisten Rockbands in der Regel nicht lange zusammen. Die Beatles haben auch nicht mehr als zehn Jahre geschafft. Aber richtig ist, dass wir nahezu eine Dekade verloren haben.

Wenn ich behaupten würde, dass die Simple Minds Jim Kerr sind oder Jim Kerr die Simple Minds ist, was würden Sie dazu sagen?

Kerr: Zu 100 Prozent falsch. Ich will gar nicht bescheiden klingen. Aber Charlie Burchill ist mein Partner beim Songwriting. Wir kennen uns seitdem wir acht Jahre alt sind. Und bei uns ist es wie bei vielen anderen Bands aus den 60er bis 80er Jahren. Es gibt immer zwei, die sich kennen, die zusammen zur Schule gegangen oder in der gleichen Straße großgeworden sind. Ich spiele meinen Part in der Band, in dem ich Schwachsinn verzapfe. Ich bin quasi der Dexter der Simple Minds (lacht).

Ich habe mal auf dem Hafenfest in Münster eine Band gesehen, die hat U2, Depeche Mode und Simple Minds gecovert. Ist das eine Ehre für eine Band, wenn andere ihre Lieder spielen?

Kerr: Es gibt Unterschiede. Wir nehmen Bands über ihre Webseiten oder auch über soziale Netzwerke wahr. Manche sind harmlos, manche interessant und manche sind eine Parodie. Aber es ist schon cool.

Jetzt habe ich U2 schon zweimal erwähnt. Nervt Sie eigentlich der ständige Vergleich?

Kerr: Das verstehe ich, weil wir viel gemeinsam haben. Ich war sogar bei U2 zu Hause und weiß, dass sie die gleichen Bücher gelesen und die gleiche Musik gehört haben wie wir. Selbst die Entstehung beider Bands ist vergleichbar. Auch U2 ist eine Schulband. Was die Ideologie angeht, haben wir Schnittmengen wie Anti-Apartheid etc. Wir sind bei MTV groß herausgekommen, hatten Erfolg und haben uns bis zu einem bestimmten Punkt gegenseitig beeinflusst. Aber ich bin doch lieber bei den Simple Minds.

Das neue Album “Big Music” ist eine Rückkehr zu den frühen Alben der 80er Jahre. Woher kommt die Rückbesinnung?

Kerr: Das war nicht bewusst. Uns hat die kleine Tour beeinflusst, die wir vor ein paar Jahren gemacht haben, auf der wir nur Songs der ersten fünf Alben gespielt haben. Und sie klangen überhaupt nicht 30 Jahre alt, sondern nach wie vor zeitgemäß. Also haben wir über die Essenz der Songs nachgedacht. Unsere Fans und die Musikmedien sagen, dass es kein Retro-Album ist, sondern einen Bogen schlägt zu den früheren Alben. Und das stimmt, weil sich auch die Technik mit den Jahren verändert hat.

Ich würde sagen, es ist das beste Simple Minds Album seit “Once Upon a Time” aus dem Jahr 1985.

Kerr: Vielleicht. Ja. Ich stimme zu.

Naja, Sie müssen das ja jetzt sagen.

Kerr: Nein, nein. Ich könnte auch sagen, sie waren alle großartig (lacht). Oder das ist mein Lieblingsalbum. Ich sage aber, es hat mir viel Freude gemacht, das Album und die neuen Songs zu schreiben.

Die alten Songs wie “Alive and Kicking” sind zeitlos. Glauben Sie, dass man das über die neuen Songs auch einmal sagen wird?

Kerr: Gute Frage. Aber ich kann sie nicht beantworten. Wer weiß sowas schon? Der ersten Aussage stimme ich aber zu. Manche Songs waren damals innovativ, auch wegen der aufkommenden Technologie, der wir uns bedient haben. Wir werden oft von anderen Musikern gefragt, ob sie uns sampeln dürfen. Dann frage ich, warum macht ihr nichts Eigenes? Die Antwort ist, dass unsere Songs “Kultstatus” hätten.

Wie sind Sie auf den Albumtitel gekommen und was ist für sie “große Musik”?

Kerr: Das soll nicht oberflächlich klingen, aber es geht um Musik an sich. Ich bin nach wie vor begeistert, dass mich auch nach ungefähr 45 Jahren des Musikhörens, Konzerteanschauens, des Lesens und Nachdenkens über Musik, des Schreiben eigener Songs und selbst Musizierens, dass mich Musik immer noch - wie sonst nichts Anderes - so berühren kann.

Das 2005er Album “Black & White” passte nicht recht zu den Simple Minds. Ich fand, es biederte sich jüngeren Bands wie “The Killers” an. Es klang nach Selbstfindung.

Kerr: Lassen Sie mich mit einer Metapher antworten. Wären die Simple Minds vor den Aufnahmen zu diesem Album ein Auto gewesen, dann hätte man dazu Rostlaube gesagt. Ein ehemals strahlender Oldtimer, der jetzt am Straßenrand steht und von dem man nicht weiß, ob er jemals wieder wird fahren können. Wir haben überlegt, das Auto einfach stehen und rosten zu lassen. Aber das war keine Option. Also haben wir uns entschieden, die Musik wieder in den Mittelpunkt unserer Leben zu rücken.

Das Album klingt irgendwie nicht perfekt...

Kerr: Zunächst haben wir geschaut, ob die Zündung des Autos noch funktioniert. Wir mussten das Auto wieder fahrtauglich machen. Übertragen gesagt, wir hatten völlig unser Selbstvertrauen verloren. Das war der Zustand, in dem wir uns befanden. Trotzdem gibt es Schätze auf diesem Album. Songs wie “Dolphins”, “Home” oder “Stay Visible” zum Beispiel. Aber “The Killers”? Machen Sie Witze? Die können von solchen Songs doch nur träumen (lacht). Aber es stimmt, das Album ist keine Einheit.

Ja, genau, als ob etwas fehlt…

Kerr: “Big Music” ist mit Herzblut geschrieben und produziert worden. Ich will nicht behaupten, dass es perfekt ist, was ist schon perfekt? Aber wäre es eine Fußballelf, dann wäre sie auf jeder Position gut besetzt. Und das war “Black & White” nicht.

Um in der Metaphorik zu bleiben: Das Simple-Minds-Auto gibt auf der Autobahn ordentlich Gas?

Kerr: Wir heben ab (lacht).

Sie haben angefangen in einer Punkband namens “Johnny and the Self Abusers”. Punk ist eine Haltung. Verliert man die als über 50-jähriger Vater?

Kerr: Es war eine tolle Zeit damals in England, als der Punkrock aufkam. The lunatics take over the asylum. Das war die Zeit des Do-it-yourself: Man kam auf die Idee, einen Film zu machen, eine Designagentur zu starten oder eine Band zu gründen, die nicht so perfekt klingt wie Eric Clapton. Und wenn Sie mich nach der Verbindung zu der damaligen Zeit fragen, dann hat sich das nicht geändert. Wir versuchen uns immer noch neu zu erfinden. Ich kann immer noch kein C von einem D oder G unterscheiden, weil ich keinen Musikunterricht hatte. Darum ging es damals und geht es heute noch.

Also kommt es von Herzen?

Kerr: Es kommt von Herzen. Und von der Vorstellungskraft. Punk erfordert Eier und Chuzpe. Und man muss diese Haltung beibehalten, ob man Erfolg hat oder gerade im Desaster untergeht.

Chuzpe ist ein tolles Wort.

Kerr: Ja, Chuzpe ist fantastisch. Es besagt: Woher nimmst du die verdammten Eier zu glauben, dass etwas funktioniert und du nicht schallend ausgelacht wirst?

Sie waren Anfang dieses Jahres bereits im Jovel. Anfang 2015 jetzt wieder. Wie unterschiedlich wird die Setlist sein?

Kerr: Wir spielen zwei Sets am Abend. Zehn Songs sind nahezu jeden Abend gleich. Die anderen 14 nehmen wir aus einem Pool von 80 bis 90 Titeln, die wir dann austauschen. Im Wesentlichen spielen wir Songs aus jeder Phase der Band. Unsere Hits, aber auch unbekanntere Songs, natürlich Songs vom neuen Album und Coverversionen, von denen man nicht glauben würde, das wir sie spielen.

Info

Simple Minds, Freitag, 27. Februar, 20 Uhr, Jovel Music Hall, Albersloher Weg 54.

Die Krombacher-Werbung hat früher den Song “Belfast Child” benutzt und jetzt “Stars will lead the way”. Der Spot läuft vor Fußballspielen und vorm Tatort. Eigentlich müsste jeder Deutsche die Simple Minds kennen. Nur weiß niemand, dass die Songs von Ihnen sind. Stört Sie das nicht?

Kerr: Nein, das ist ideal (lacht). Es ist schon hart, aber es wird uns nicht umbringen (lacht weiter). Sonst heißt es noch über mich: “Guck mal, der Biertyp” (lacht lauthals). Aber Sie haben recht, Krombacher benutzt die Songs zugegebenermaßen schon anonym. In Amerika hat mal eine der großen Burger-Ketten angefragt - und da ging es um richtig viel Geld - ob sie unseren Song “Alive and Kicking” benutzen dürften. Sie wollten den Text ändern in “I like fried chicken” (muss vor Lachen eine Pause machen).

Das ist ein Witz (lacht ebenfalls mit)...

Kerr: Ernsthaft. Natürlich mussten wir das ablehnen. Nein, nein, niemals, nein.

Sie sind immer noch Fans von Cetic Glasgow?

Kerr: Klar. Durch gute und schlechte Zeiten.

Haben Sie die WM verfolgt?

Kerr: Ja. Es ist ja schon witzig die WM zu schauen, weil unsere schottische Nationalmannschaft nie dabei ist (lacht). Aber es waren sich alle einig - und ich sehe das auch so -, dass Deutschland verdient gewonnen hat.

Schaffen es die Schotten denn zur EM?

Kerr: Das ist alles eng in der Gruppe. Deutschland wird sie gewinnen. Die Schotten waren gut beim Unentschieden gegen Polen. Aber ich denke, dass Polen, Irland und die Schotten um die Plätze dahinter kämpfen. Vielleicht ist es für uns aber zu früh.

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